Ein Löwen­zahn-Tag

Es gibt Tage, da wird man immer wie­der auf ein bestimm­tes The­ma „gestupst“, bis der Tag davon beherrscht wird. Einen sol­chen Tag hat­te ich an einem Sonn­tag im letz­ten Früh­jahr und das The­ma war der Löwen­zahn.

Der Tag begann mit einem mor­gend­li­chen Gang durch den eige­nen Gar­ten, wo eini­ge Löwen­zahn Pracht­ex­em­pla­re im Gewürz­beet leuch­te­ten, mit über gut 50 cm aus­ge­brei­te­ten Blatt­ro­set­ten. Bei­na­he zu scha­de, aber sie muss­ten weg, um nicht den Schnitt­lauch direkt dane­ben zu ver­drän­gen. Zwar gibt unser Löwen­zahn, Tar­a­xa­cum offi­ci­na­le, einen wun­der­ba­ren Salat, aber bei die­sen Pflan­zen war es ange­sichts der som­mer­li­chen Tem­pe­ra­tu­ren defi­ni­tiv zu spät für den Ver­zehr.

Nur wenig spä­ter prä­sen­tier­ten sich auch bei einem Gang durch den Bota­ni­schen Gar­ten gan­ze von Löwen­zahn, domi­nier­te Bee­te, von denen ein viel­blü­ti­ges Exem­plar, einen regel­rech­ten Strauß bil­dend, im Bild zu sehen ist. Sie erin­ner­ten uns an einen Zwi­schen­stopp auf dem Weg nach Aus­tra­li­en in Kua­la Lum­pur, wo Pla­ka­te für eine Blu­men-Aus­stel­lung war­ben. Wir kamen in das Muse­um in Erwar­tung von Orchi­deen und ande­ren tro­pi­schen Pflan­zen, nur um fest­zu­stel­len, dass es bei die­ser viel­be­such­ten Aus­stel­lung um künst­li­che Blu­men ging. Obwohl zum Teil sehr präch­tig und kunst­voll, ent­spra­chen sie doch nicht ganz unse­ren Erwar­tun­gen. Es gab aller­dings eine Aus­nah­me: Die ein­zi­ge leben­de Pflan­ze, in einem klei­nen sepa­ra­ten Raum unter Glas zur Schau gestellt, war ein präch­ti­ger Löwen­zahn in vol­ler Blü­te. Für uns eine Aller­welts­pflan­ze, dort ein Exot; so ändern sich mit den geo­gra­phi­schen Koor­di­na­ten auch die Auf­fas­sun­gen, was vor­zei­gens­wert ist.

Aber zurück zum Sonn­tag in Mün­chen. Bei der Rück­kehr nach Hau­se zeig­te sich auf dem Bür­ger­steig nicht nur die Pracht, son­dern auch die Zähig­keit des Löwen­zahns. Aus den kleins­ten Rit­zen der Gara­gen­zu­fahrt und des Bür­ger­steigs spros­sen Dut­zen­de von Pflan­zen, die Dank ihrer tief­grün­di­gen Wur­zeln den jähr­li­chen Früh­lings­putz mit Stahl­be­sen gut über­stan­den hat­ten. Und das bringt mich zum nächs­ten Stup­ser.

Pünkt­lich um 11:05 Uhr saß ich vor dem Fern­se­her. Sonst nur wenig genutzt, ist die Kika Wis­sen­schafts-Sen­dung um die­se Zeit, „Löwen­zahn“, ein Muss für mich. Und genau des­sen Sprie­ßen auf Fuß­we­gen zwi­schen den Plat­ten, in Rit­zen im Asphalt oder in Mau­er­sprün­gen wird im Vor­spann gezeigt, wenn auch bota­nisch nicht ganz so gut aus­ge­ar­bei­tet wie im Vor­spann der ursprüng­li­chen Sen­dung mit Peter Lus­tig als Haupt­ak­teur.

Aber damit war der Tag des Löwen­zahns noch nicht zu Ende. Das zwei­te Muss am Sonn­tag ist die unmit­tel­bar auf „Löwen­zahn“ fol­gen­de „Sen­dung mit der Maus“. Der Vor­spann ist bei die­ser Sen­dung jeweils zwei­spra­chig, wobei die zwei­te Spra­che meist eine Ver­bin­dung zu einem der behan­del­ten The­men hat. In die­sem Fall war es Kasa­chisch. Und das bringt uns wie­der zu einem Löwen­zahn, und zwar zu dem von dort stam­men­den rus­si­schen Löwen­zahn, Tar­a­xa­cum kok-sag­hyz, dem an die­sem Sonn­tag, aus­nahms­wei­se, die kom­plet­te Sen­dung gewid­met war. Genau­er gesagt sei­nem Milch­saft, der dem des Kau­tschuk-Bau­mes, der Wolfs­milch Hevea bra­si­li­en­sis, nicht nur ober­fläch­lich ähnelt. Bei­de ent­hal­ten als wich­tigs­ten Bestand­teil hoch­mo­le­ku­la­res poly‑1,4‑cis-Isopren, die Grund­la­ge von Kau­tschuk. Laut Wiki­pe­dia war die­se Saft-rei­che Löwen­zahn-Art bis zum zwei­ten Welt­krieg eine wesent­li­che Kau­tschuk-Quel­le in Län­dern mit einem erschwer­ten Zugang zu H. bra­si­li­en­sis. Bei­spiels­wei­se lie­fer­te sie etwa 30% des Kau­tschuks im damals wirt­schaft­lich iso­lier­ten Russ­land. Und im Kriegs-ios­lier­ten Deutsch­land wur­de Löwen­zahn eben­falls für die­sen Zweck unter­sucht, unter unmensch­li­chen Bedin­gun­gen in Ausch­witz. In der Fol­ge spiel­te der kau­ka­si­sche Löwen­zahn dage­gen kei­ne Rol­le mehr und wur­de voll­stän­dig durch H. bra­si­li­en­sis ersetzt. Vor eini­gen Jah­ren wur­den die­se Arbei­ten aber wie­der auf­ge­nom­men, zu nen­nen sind u.a. Prof. Dirk Prü­fer in Müns­ter, Fred Eick­mey­er von der Fir­ma Esku­sa in Park­stet­ten bei Strau­bing, Dr. Chris­ti­an Schul­ze Gro­no­ver von der Fraun­ho­fer Gesell­schaft, Aachen, und Dr. Car­la Recker von der Fa. Con­ti­nen­tal. Auch der hei­mi­sche Tar­a­xa­cum offi­ci­na­le hat die­sen Milch­saft zur Ver­tei­di­gung gegen Fress­fein­de, aber sehr viel weni­ger davon. Dage­gen hat er aber sehr viel grö­ße­re Wur­zeln. In der „Sen­dung mit der Maus“ vom 14.4.24 wur­de zunächst beschrie­ben, wie durch Kreu­zung des nur wenig Milch­saft pro­du­zie­ren­den, aber gro­ße Wur­zeln bil­den­den T. offi­ci­na­le mit dem Saft-rei­chen, aber klein­wur­ze­li­gen T. kok-sag­hyz Hybri­de mit gro­ßen Wur­zeln erhal­ten wur­den, die bezo­gen auf das Tro­cken­ge­wicht bis zu 17% Milch­saft ent­hal­ten. In einer zwei­ten Epi­so­de wur­de ihr land­wirt­schaft­li­cher Anbau, die Ern­te und Samen­ge­win­nung, deren Aus­saat und schließ­lich die Ern­te der Wur­zeln mit einem Spe­zi­al-Roder gezeigt. Die Sen­dung schloss mit einer Epi­so­de, die die Pro­duk­ti­on von Fahr­rad­rei­fen aus dem dar­aus pro­du­zier­ten „Tar­a­xa­gumTM“ zeigt. Vor­tei­le des Ver­fah­rens sind kur­ze Trans­port­we­ge und Scho­nung des Regen­walds, Nach­teil ist, wie immer bei solch land­wirt­schaft­li­chen Pro­duk­tio­nen, die Kon­kur­renz mit Pflan­zen zur Ernäh­rung des Men­schen.

Aber damit noch nicht genug Löwen­zahn an die­sem Sonn­tag: Zum Kaf­fee tra­fen wir uns mit zwei Freun­din­nen. Auf mei­ne Erwäh­nung der gehäuf­ten „Löwen­zahn-Stup­se“ am Vor­mit­tag berich­te­te eine von ihnen, Karin Zach, von ihrem Groß­va­ter Richard Wag­ner. Vor dem 1. Welt­krieg war er, als Sozia­list und Redak­teur des Braun­schwei­ger Anzei­ger „poli­tisch gefähr­lich“, im Gefäng­nis in Braun­schweig ein­ge­sperrt. Aus sei­nem Fens­ter­chen konn­te er dort fast nur Stei­ne sehen: Mit Aus­nah­me einer ein­sa­men Löwen­zahn-Pflan­ze, die ihm als Wun­der­blu­me erschien und ihn auf ein Gedicht brach­te. Es wur­de in unse­rer Fami­lie häu­fig zitiert, ich hat­te es aber fast ver­ges­sen. Genau genom­men hat er sogar meh­re­re Fas­sun­gen mit Blei­stift als ein­zi­gem Werk­zeug auf­ge­zeich­net. Mit einer von ihnen möch­te ich die­sem Bericht vom Tag des Löwen­zahns schlie­ßen, nicht ohne Hin­weis auf die ver­wir­ren­de Sys­te­ma­tik (s.u.): Leon­t­o­don tar­a­xa­cum war lan­ge der auch im Gedicht ver­wen­de­te Name für den gewöhn­li­chen Löwen­zahn. Er kom­bi­niert zwei heu­ti­ge Löwen­zahn Gat­tun­gen, Leon­t­o­don und Tar­a­xa­cum, als eine Art. Die kom­ple­xe Ver­meh­rung, u.a. die Samen­pro­duk­ti­on ohne Befruch­tung, und die dar­aus resul­tie­ren­de gene­ti­sche Viel­falt und dif­fi­zi­le Sys­te­ma­tik sind aber eine Geschich­te für sich.

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Hugo Scheer